Mariam Hendawi aus Syrien hat einen Wunsch: Ihre Tochter, die in Hannover aufs Gymnasium geht, soll neben Deutsch auch die Herkunftssprache ihrer Familie nicht vergessen. Die Sechstklässlerin soll sich mit Tanten, Onkeln und Großeltern aus Syrien genauso unterhalten können wie mit Freunden und Nachbarn in Hannover – soll Bücher, Briefe oder Zeitungen genauso flüssig auf Arabisch wie auf Deutsch lesen können.
Doch Eltern wie Mariam Hendawi merken schnell, wie schwer es ist, die Zweisprachigkeit der Kinder über das tägliche Gespräch am Frühstückstisch hinaus zu fördern. »Wenn meine Tochter die Hausaufgaben für die Schule geschafft hat, hat sie oft keine Lust, auch noch Arabisch-Übungen mit mir zu machen«, erzählt die Mutter, die vor fünf Jahren mit ihrer Familie nach Deutschland kam und sich im MigrantenElternNetzwerk Niedersachsen engagiert.
Wer sich in den verschiedenen Sprachcommunities in Niedersachsen umhört, weiß, dass Mariam Hendawi mit ihrem Problem nicht allein ist. Egal,ob Arabisch, Vietnamesisch, Türkisch, Spanisch, Russisch oder Englisch… 50 Prozent der Kinder in Großstädten wachsen inzwischen in Haushalten auf, in denen nicht vornehmlich Deutsch gesprochen wird. Ein Fakt, der in Medienberichten und Stammtischgesprächen häufig als »besorgniserregend« bewertet wird. Nicht nur Migrantenorganisationen aber plädieren schon lange dafür, diese Entwicklung stattdessen als Chance zu sehen, die es zu nutzen gelte. Unterstützt werden sie dabei von der Wissenschaft.
Zweisprachigkeit oder der frühe Erwerb einer zweiten Sprache im Kindergarten sei nicht nur kein Problem, sondern – bei konsequenter und richtiger Anleitung – eindeutig ein Vorteil für Kinder, meint etwa Sprachwissenschaftler Heiner Böttger von der Katholischen Universität Eichstädt. Er weiß: »Mehrsprachige Kinder verfügen früher über individuelle Lernstrategien. Sie können zwei Sprachen vergleichen und dann z. B. Wortschätze auch ganz leicht lernen. Auch Entscheidungsfunktionen im Hirn sind messbar früher angelegt.« Tatsächlich konnten Heiner Böttger und sein Team bei einem Forschungsprojekt mit 900 Schülern und Schülerinnen in Bayern belegen, dass die Förderung der Zweisprachigkeit nicht nur im Sprachunterricht, sondern unter anderem auch im Fach Mathematik zu besseren Noten führt. »Das hat damit zu tun, dass bei denen, die diese beiden Sprachen erwerben, eine kognitive Mehrleistung erforderlich ist«, so Böttger. »Und diese Mehrleistung führt wie bei einem normalen Trainingsprozess zu einer höheren Leistungsfähigkeit.«
Voraussetzung sei allerdings, dass beide Sprachen richtig gefördert und nicht etwa, wie in vielen Familien, vermischt oder nur rudimentär weitergegeben und in der Schule ignoriert, ja manchmal gar stigmatisiert werden. Vor allem die Annahme, dass Kinder auch zu Hause möglichst Deutsch sprechen müssten, um die Sprache fehlerfrei lernen zu können, sei genauso wie der Glaube, dass ein Mehr an Deutschstunden automatisch zu besseren Deutschnoten führen würde, »von der Wissenschaft mittlerweile ad absurdum geführt worden«, so der Sprachwissenschaftler. Stattdessen gilt: Auf die frühe und konsequente Förderung der Erstsprache kommt es an. Nur wenn diese richtig ausgebildet wird, haben Kinder das grundlegende Referenzmodell, das sie zum Erlernen jeder weiteren Sprache – zum Beispiel Deutsch – brauchen.
Diese Erfahrung hat auch Seyhan Öztürk gemacht, Vorsitzende der Föderation Türkischer Elternvereine in Niedersachsen. Sie und ihre drei Geschwister sprachen mit den Eltern zu Hause ausschließlich Türkisch. Im Türkischunterricht, den sie an ihrer Grundschule in Salzgitter zusätzlich belegen konnte, wurde das zu Hause Gelernte vertieft und ausgebaut. »Das hat dazu geführt, dass ich in der Schule immer sehr gut war«, so die Rechtsanwältin .
Doch ob Kinder heute an ihrer Schule herkunftssprachlichen Unterricht besuchen können, hängt nicht nur von der Schule, sondern auch von dem Bundesland ab, in dem sie leben. So ist man etwa in Berlin gerade dabei, ein neues Konzept für den Ausbau des Herkunftssprachenunterrichts zu entwickeln, der bisher in drei Sprachen angeboten wird, während Schülerinnen und Schüler in Niedersachsen an ausgewählten Schulen Unterricht in 13 unterschiedlichen Sprachen erhalten können. In einigen anderen Bundesländern sind es noch mehr, in anderen gibt es derweil gar kein extra Angebot für mehrsprachig aufwachsende Kinder.
Insgesamt ist das deutsche Bildungssystem in großen Teilen auf einsprachig deutsch aufwachsende Kinder ausgerichtet, konstatiert Dr. Dita Vogel, Senior Researcher im Arbeitsbereich interkulturelle Bildung an der Universität Bremen, die den Umgang von Schule und Gesellschaft mit Migration erforscht. Auch wegen der traditionellen Fokussierung auf die Kolonialsprachen Französisch und Spanisch als zweite Fremdsprachen habe »die Mehrheit der mehrsprachig Aufwachsenden in Deutschland nicht die Möglichkeit die eigene Sprache weiterzuentwickeln.«
Welch große Potenziale die Gesellschaft durch dieses Nichtanerkennen von Herkunftssprachen im Bildungssystem womöglich verschenkt, wird in Deutschland kaum öffentlich diskutiert, geschweige denn in Frage gestellt. Dabei sind sich Sprachwissenschaftler wie Heiner Böttger längst sicher: »Würden Bildungspolitikerinnen und ‑politiker und Schulen begreifen, dass bilinguale Förderung sein muss, dann hätten wir auch diese Kinder mit Migrationshintergrund, die dann auch durchaus in die Gymnasien kommen, die studieren, die akzentfrei Deutsch sprechen.« Nicht nur er glaubt: »Die Zukunft der Schulen, vor allem dann auch der Grundschulen, und in meiner Vision sogar der Kindergärten und Kindertagesstätten, die ist mehrsprachig.«
Mehr zum Thema kannst du in diesem Podcast hören. »kits« versteht Mehrsprachigkeit als Ressource. Lies in unserem Blog nach, wie du verschiedene Herkunftssprachen mit digitalen Tools in den Unterricht integrieren kannst.